Brief der stellvertretenden Seniorin - Ostern 2023

Schwaig, Palmsonntag 2023

Liebe Schwestern und Brüder,

Eine freie Fläche inmitten von Wohnblöcken, gleich neben einem Business Tower. Grün im Grau. Wildwuchs inmitten geraden Asphalts: Das ist die Überseewiese in Bremen.

Bei einem Studientag im März dieses Jahres habe ich dieses Projekt der bremischen Evangelischen Kirche kennengelernt. Im neu entstehenden „Überseeviertel“ blieb auf ökumenische Initiative hin eine 11.000 Quadratmeter große Fläche unbebaut und bewusst brach liegen. In anliegenden Geschäftsräumen entstand eine kleine Ladenkirche.

Die Überseewiese stieß und stößt auf Widerstände. Was soll das? Ein freier Raum einfach so? Für viele ist das schwer auszuhalten. Tatsächlich, besonders schmuck ist sie nicht. Die Brachfläche ist weder besonders gepflegt, noch besonders gestaltet, sondern eben einfach nur das: Frei-Raum.

Auch ich bin beim ersten Anblick eher irritiert: Eine Freifläche erhalten? Hätte man die Ressourcen nicht anders einsetzen können? Doch dann merke ich, wie gut dieser Frei-Raum tut. Kinder, die keinen Garten haben, kommen vorbei, und ältere Menschen, die Begegnungen suchen. An manchen Ecken wird Gemüse angepflanzt und an anderen Fußball gespielt. Nachmittags liegt ein Wohnungsloser mitten dort auf einer Bank. Man trifft sich in der Ladenkirche zum Müll-Sammeln und zum Taizé-Gebet. Und ich, ich atme tief durch. Mein Blick richtet sich auf die Weite des Horizonts.

Bräuchte es nicht mehr Frei-Räume? Räume dazwischen. Als Lebens-Orte zum Da-Sein.
Oder auch: Frei-Räume im Puls der Zeit.
Der erzwungene Stilstand der Corona-Zeit scheint nun endgültig vorbei. Ohne die Corona-Zeit mit all ihren Schrecken und Problematiken romantisieren zu wollen: es macht mich doch nachdenklich, wie übergangslos manche Erkenntnis zurückgelassen wurde. Hatten wir nicht plötzlich Frei-Räume gefunden, die wir zuvor vermissten? Gab es nicht die Entdeckung, dass Verzicht nicht immer Verlust ist? Gab es nicht die Empfindung, dass weniger Erlebnis bewussteres Leben sein kann? Gerade in dieser Passions- Zeit denke ich daran, welche Ernsthaftigkeit für mich in den stillen, entschleunigten Passions-Wochen der Corona-Jahre lag. Wäre es nicht eine Chance gewesen, die Sehnsucht nach Frei-Räumen zuzulassen? Nicht jede Veranstaltung, jedes Event wieder anzufangen, und es noch dazu größer und besser machen zu müssen? Ja, natürlich tut es gut einander wieder nahe zu kommen. Und ist es gut, verlorenen Kontakte wieder zu suchen. Dennoch sind wir, auch kirchlicherseits, oft genug wieder in Aktivismus verfallen. Ich wünsche mir Mut für Frei-Räume, für Räume zum Durchatmen zwischen dem Sofort und dem Gleich.

Noch an eine andere Art Frei-Raum muss ich denken: Frei-Räume zwischen dem Für und dem Wider.
Im Diskurs und der Gesprächs-Kultur wünsche ich mir Frei-Raum, ganz buchstäblich: Etwas hören und nicht gleich reagieren zu müssen. Erstmal innehalten und nachdenken. Es bedrückt mich, dass ich sowohl in öffentlichen, als auch in persönlichen Kontakten erlebe, wie wenig man sich solche Frei-Räume gibt. Ich würde mir viel mehr Zögern und Nachdenklichkeit wünschen, auch, dass man sich einmal nicht sicher sein darf mit seiner Meinung. Der Komplexität unserer Zeit und der Herausforderungen, die sich stellen, wäre das allemal angemessen. Ich empfinde es als Dilemma, dass es Würdenträgern, ob kirchlich, oder weltlich, sofort zum Nachteil auslegt wird, wenn sie sich nicht unmittelbar pointiert äußern. Ich frage mich, wie es uns als Kirche gelingen kann, solchen Mechanismen nicht nachzugeben, und stattdessen Frei-Räume in Debatten zu suchen und zu ermöglichen. Und so der Versachlichung zu dienen, und der Verrohung in der Gesprächs-Kultur entgegenzustehen.

Ganz bestimmt sind solche Frei-Räume eine Herausforderung. Wir haben es vielleicht schwer damit. Aber man könnte zumindest die Sehnsucht danach wachhalten. Danach suchen. Sie nicht verloren geben. So wie die Initiatoren in Bremen um die Übersee-Wiese kämpfen, deren zukünftige Erhaltung in Frage steht.

Vielleicht durften wir ja Frei-Räume in den zurückliegenden Wochen erleben, dieser alten Zeit des Fastens und Besinnens. Vielleicht gelingt es ja, Frei-Räume zu finden, in den Tagen der Karwoche, die vor uns liegen.

Immerhin: Das Ostergeschehen, auf das wir uns hin bewegen, es wird mit einem Frei-Raum beginnen. Entsetzt euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, er ist nicht hier. Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten. (Mk 16,6)
Das leere Grab ist Botschaft der Hoffnung: Frei-Raum, aus dem Leben entspringt, jetzt und ewig.

Oder wie es Kurt Marti beschreibt:
das leere grab: ein grab greift/ tiefer/ als die gräber gruben / denn ungeheuer / ist der vorsprung tod / am tiefsten / greift / das grab das selbst / den tod begrub / denn ungeheuer / ist der vorsprung leben

Frei-Raum mitten im Alltag zwischen Gemeindeleben und Privatleben ist für mich immer wieder unsere Gemeinschaft in der Pfarrgeschwisterschaft. Ganz herzliche Einladung zu unserer Pfingsttagung vom 29.05.2023 - 31.05.2023 in Heilsbronn mit Prof. Dr. Michael Roth zum Thema „Zwischen Wutbürger und Gutmensch – Was eint, was trennt in ethischen Fragen unsere Gesellschaft.“ Wir bitten um Anmeldung bis zum 01. Mai und Überweisung des Tagungsbeitrags an das genannte Konto.

Wir freuen uns, dass wir bei der Tagung auch wieder das Karl-Steinbauer-Zeichen verleihen werden. Preisträger ist der kath. Würzburger Studierendenpfarrer Burkhard Hosef für sein langjähriges Engagement für Flüchtlinge und die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, gegen Antisemitismus und die Diskriminierung von queeren Menschen. Da Burkhard Hose selbst nicht in Heilsbronn dabei sein kann, werden wir das Zeichen Anfang Mai in Würzburg überreichen. Beim eigentlichen Festakt während der Pfingsttagung werden wir Burkhard Hose per Video zuschalten.

Noch eine Bemerkung in eigener Sache: Nach einem durchaus langen Prozess voller „Frei-Räume“, in denen wir abwarten mussten, konnten wir ja die Vereinsgründung nun abschließen. Wir freuen uns über alle, die unserer Pfarrgeschwisterschaft als Verein bereits beigetreten sind. Wer es bislang vergessen haben sollte: Einfach Beitritts-Formular ausfüllen und abschicken.

Im Namen des ganzen Rates der Brüder und Schwestern, von Senior Thomas Braun und Geschäftsführer Mark Meinhard grüße ich Euch herzlich, wünsche eine segensreiche Karwoche und ein erfüllendes Osterfest, dass sich immer wieder Frei-Räume auftun mögen.

Ihre/Eure
Julia Illner