Januartagung 2020
13. Januar 2020

Jüdisches Leben zwischen Antisemitismus und Alltag

Mit Jo-Achim Hamburger, Vorsitzender der Kultusgemeinde,
German Djanvaliev, Religionspädagoge
und Gemeindegliedern

In der Israelischen Kultusgemeinde Nürnberg, Arno-Hamburger-Straße 3a

Bericht von der Januartagung der Bayerischen Pfarrbruderschaft
in der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg

Jüdisches Leben
zwischen Antisemitismus und Alltag

Großen Zuspruch erfuhr in diesem Jahr die Januartagung der „Bayerischen Pfarrbruderschaft – Theologische Weggemeinschaft von Frauen und Männern“. Es lag sicherlich gleichermaßen am Tagungsort in der Israelitischen Kultusgemeinde wie an der bestürzenden Aktualität des Themas. Die Tagung war lange vor dem Terroranschlag in Halle am Jom Kippur 2019 geplant worden. Dieser allerdings brachte auf furchtbare Weise zum Ausdruck, was sich nach Einschätzung unserer jüdischen Gesprächspartner schon lange angebahnt hatte.

Wie deutsche Jüdinnen und Juden ihr Leben heute im Alltag erfahren, kam freilich erst am Nachmittag zur Sprache. Zunächst brachte der Vorsitzende der IKGN

Jo-Achim Hamburger, zusammen mit dem Geschäftsführer, André Freud, den Vorschlag ein, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einen Text analysieren und miteinander besprechen sollten, der 2018 große Kontroversen ausgelöst hatte. Autor war Dr. Rainer Stuhlmann, früher Superintendent in der Rheinischen Landeskirche, im Ruhestand dann von 2011 bis 2016 Studienleiter von Nes Ammim in Nordisrael, zurzeit für ein Jahr kommissarischer Probst von Jerusalem. 

Der Text war Teil einer Gottesdienst-Hilfe zum 70. Gründungsjubiläum des Staates Israel. Stuhlmanns Darstellung der palästinensischen Situation führte vor zwei Jahren dazu, dass eine zusammen mit der rheinischen Kirchenleitung geplante Israelreise vom nordrheinischen Landesverband der jüdischen Gemeinden abgesagt wurde. Die Frage von Jo-Achim Hamburger an die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lautete: „Wenn Sie sich in uns Juden versetzen - hätten Sie in Kenntnis dieses Textes die gemeinsame Reise auch abgesagt oder nicht?“

Die Einschätzungen dazu waren kontrovers – wie übrigens auch in den jüdischen Gemeinden und Verbänden, so Jo-Achim Hamburger und André Freud.  Meine eigene Meinung war: „Jetzt wäre diese gemeinsame Reise erst recht nötig gewesen.“ Andere sahen es anders. Und André Freud meinte: „Ja, aber man hätte gemeinsam nochmals neu ansetzen müssen.“ Der Text selbst wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern differenziert, aber doch überwiegend kritisch bis sehr kritisch gesehen. Für mich selbst schloss ich aus der Lektüre und Besprechung, dass Analysen, die von einem scheinbar objektiven Standpunkt aus allen Konfliktparteien gerecht werden wollen, offenbar grundsätzlich nicht zielführend sind, weil sie in sich zu abgeschlossen und belehrend wirken, und zwar unabhängig von der Problematik einzelner Aussagen. 

Natürlich stand auch eine mögliche Definition von Antisemitismus im Raum.

Jo-Achim Hamburger etwa erfährt es als Antisemitismus, „wenn man einem Juden etwas übel nimmt, was man einem anderen zugesteht“. 

André Freud brachte in Bezug auf den Staat Israel den sogenannten „3-D-Test für Antisemitismus“ ein, entworfen von Natan Scharanski, mit den Kriterien:

  • Dämonisierung  des Staates Israel
  • Delegitimierung des Staates Israel
  • Doppelstandards bzw. Doppelmoral.

Dies galt es zunächst zu hören und mitzunehmen. Damit ist die Befassung mit der Antisemitismusfrage sicherlich nicht abgeschlossen. Gegen Ende der Veranstaltung wurde dann der Begriff an sich noch einmal kontrovers diskutiert. „Antisemitismus“ sei zwar sprachlogisch problematisch, gestand André Freud zu, jedoch eingeführt und allgemein akzeptiert.

Für die Begegnung am Nachmittag standen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern neben Herrn Hamburger und Herrn Freud der jüdische Religionslehrer German Djanatliev, die Studentin Liza Agarkova und die jüdische Vorsitzende der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Franken,  Ruth Ceslanski zur Verfügung. Pfr. Thomas Miertschischk, der die Begegnung moderierte, bat die jüdischen Gesprächspartner, sowohl „Highlights“ als auch Tiefpunkte in ihrem Leben als Juden und Jüdinnen in unserer Gesellschaft zu benennen.

Hier exemplarisch einige Voten:

  • Liza Agarkova: Sie erfährt durchaus viel Aufgeschlossenheit unter den Mitstudentinnen und Mitstudenten, wenn sie sich als Jüdin „outet“, ist aber leider auch mit rechtem Gedankengut konfrontiert, von dem sie sich dann in der Regel nur fernhalten kann. 
  • Als bedrohlich nimmt sie die Stimmung in den „sozialen Medien“ wahr, in denen sie als junger Mensch unterwegs ist wie die meisten Menschen ihrer Generation auch. 
  • Als sehr problematisch empfand sie es, dass in der Schule die Shoa wie ein X-beliebiger Lernstoff abgehandelt wurde.
  • Ein Traum: „Wenn ich eines Tages in dieser Gesellschaft den Davidstern als Schmuck offen tragen könnte.“
  • André Freud, der auch Vorsitzender des jüdischen Arbeitskreises in der CSU ist, empfand es als sehr ermutigend, dass es so schnell und selbstverständlich möglich war, diesen einzurichten, mit großer Unterstützung durch die Parteispitze.
  • Als belastend empfindet er nicht kritische Fragen zu seinen Positionen und Auffassungen, sondern wenn geschwiegen oder ihm aus dem Weg gegangen wird, denn solches Schweigen ist nicht greifbar.
  • Für Ruth Ceslanski ist die sehr konstruktive und erfolgreiche Zusammenarbeit in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit eine gute Erfahrung.

  • German Djanatliev lobte die hervorragende Kooperation mit der evangelischen Wilhelm-Löhe-Schule in Nürnberg. 30 % aller jüdischen Schülerinnen und Schüler in Nürnberg besuchen deshalb die Löheschule.
  • Fordernd, aber lohnend und auch notwendig sind die Führungen von Schulklassen durch die Synagoge insbesondere dann, wenn  Schülerinnen und Schüler Vorurteile oder Aggressionen mitbringen. Konkrete Begegnung und gegenseitiges Kennenlernen führen zu gegenseitigem Verständnis.
  • Schlimm war es, als seinem Sohn gesagt wurde, ein anderer Junge würde sich auf Anweisung der Mutter weigern, mit einem Juden zusammen im selben Wasser zu schwimmen. Mittlerweile gibt es aber auch mit dieser Familie einen konstruktiven Dialog.

Alle jüdischen Gesprächspartner betonten, dass der Anschlag von Halle für sie nicht unerwartet kam und dass dieser auch nicht der letzte gewesen sein wird – wenn die Mehrheitsgesellschaft nicht aufsteht und in einer breiten Bewegung (wie etwa bei den Friedensdemonstrationen in den 80er Jahren) deutlich macht, dass sie Antisemitismus und Rassismus nicht duldet. Mitfühlende Worte allein seien zu wenig.

Voraussetzung für ein gutes Miteinander, so unsere Gesprächspartner, sei nicht der Verzicht auf Kritik, sondern die Bereitschaft, gegensätzliche Auffassungen und Erfahrungen auszuhalten.

Aufklärung und Bildung seien im Hinblick auf junge Menschen zwar unerlässlich, würden aber nicht als abstrakter Lernstoff ohne zwischenmenschliche Begegnungen funktionieren, samt der Bereitschaft, sich darauf einzulassen.

Bericht und Fotos: Frieder Jehnes