Pfingsttagung 2016
16. - 18. Mai 2016 im RPZ in Heilsbronn

Mode - Zeitgeist - Identität - Kirche
Morgens vor dem Kleiderschrank entscheide ich, wer ich heute bin
Dr. Katharina Eberlein-Braun

Mode, Zeitgeist und deren Auswirkung auf die Identität der heutigen Menschen: Mit dieser für Pfarrerinnen und Pfarrer auf den ersten Blick ungewöhnlichen Fragestellung beschäftigte sich die Bayerische Pfarrbruderschaft bei ihrer diesjährigen Pfingsttagung. Der Untertitel lautete: „Morgens vor dem Kleiderschrank entscheide ich, wer ich heute bin“.  Aber ist das wirklich so? Müssen bzw. dürfen wir es gerade als Theologinnen und Theologen nicht anders sehen? Ist nicht schon längst entschieden, wer ich bin, nämlich ein Kind Gottes, angenommen, angesehen, geliebt - ganz unabhängig von „Äußerlichkeiten“? So wurde sinngemäß in der späteren Diskussion gefragt.

Als Referentin hatte die Pfarrbruderschaft die Theologin Dr. Katharina Eberlein-Braun eingeladen. Sie arbeitet gerade an einer Habilitation zum Thema „Religiöse Motivik in der Mode“. Sie konfrontierte die Tagungsteilnehmer mit der Frage, ob es bei der Beschäftigung mit Mode wirklich nur um Äußerlichkeiten geht. Ob ich nicht vielmehr durch mein Äußeres immer bewusst oder unbewusst zum Vorschein bringe, was von meinem Inneren und meiner Persönlichkeit ich in einer bestimmten Situation zeigen will. Genauso gut könnten wir – das ist meine Assoziation dazu – daran denken, wie bewusst wir unsere Wohnungen einrichten – im IKEA-Stil oder gutbürgerlich oder mit edlen Designermöbeln oder mit Erbstücken oder...? Auch damit bringen wir unsere Persönlichkeit sehr individuell zur Geltung und präsentieren uns ja auch so, wenn wir zum Beispiel Gäste in unseren Privatbereich einladen. 

Die theologische Frage wäre dann, wie eine angemessene Verhältnisbestimmung dieser Wirklichkeiten auszusehen hat: Einerseits: wir dürfen uns und andere ansehen als geliebte Kinder Gottes, unabhängig vom Äußeren. Andererseits: Stets präsentieren wir uns und zeigen damit, welchen Teil unserer Persönlichkeit wir in bestimmten Situationen zum Vorschein bringen wollen. Das bestimmt unsere Selbstwahrnehmung genauso, wie wir andere einschätzen und eingeschätzt werden.

Mode, Zeitgeist und deren Auswirkung auf die Identität der heutigen Menschen:  Das ist schon deshalb kein Randthema, weil es auch darum geht, wie wir uns als Christinnen und Christen zur Moderne positionieren. Der historische Grund für die Entstehung der Mode als Phänomen liegt nämlich, so Katharina Eberlein-Braun, in der Ablösung der vormodernen Ständegesellschaft. Dort zeigte die Kleidung den Status eines Menschen unabdingbar an. Eine Option, sich für oder gegen die vorgegebene Kleiderordnung zu entscheiden, gab es nicht. Das wurde in der Moderne anders. Die Vorgaben wurden in der Moderne zwar nicht weniger, waren aber in ihrer Dynamik sehr subtil und vor allem immer weniger durch die Obrigkeit sanktioniert. Es gab keinen quasi gottgegebenen Standort des Menschen in dieser Welt mehr. „Man war nicht mehr, man wurde“, so formuliert es die Modetheoretikerin Barbara Vinken. Mit anderen Worten: In der Ständegesellschaft musste sich der Mensch keine Gedanken darüber machen, wie er sich kleidet. In der Moderne dagegen ist die Frage: „Was ziehe ich heute an?“ „Wie verhalte ich mich zur Mode?“ nicht nur reizvoll. Man kann sich dem vielmehr gar nicht entziehen. Auch wer sagt: „Mode – das ist für mich kein Thema!“ „Damit will ich nichts zu tun haben!“ bleibt in der Selbst- und Außenwahrnehmung doch Teil des Spieles. Das, so die Referentin, hat durchaus etwas Unheimliches an sich. Das heißt: Ob ich mich nun der Mode verweigere oder ob ich mit ihren Stilmitteln meine Persönlichkeit zum Ausdruck bringe  – ich bin darin nicht so frei, wie ich es vielleicht gerne hätte. Und dass Individualität in der Mode ausgerechnet durch Nachahmung zum Ausdruck gebracht wird, ist in der Tat ein irritierender Befund. Darüber hinaus besteht ein großes Problem darin, dass die Schönheits- und Glücksversprechungen der Mode die Abgründe bei der Produktion verschleiern. Wer allerdings in bildungsbürgerlichem Hochmut meint, Mode nur als Luxus und Verschwendung an den äußeren Schein anprangern zu müssen, der muss sich fragen lassen, ob zum Beispiel eine teure Bildungsreise in ein Land der Zweidrittelwelt, die nur um der Bildung willen geschieht, ethisch wirklich so viel höher steht.

Die Referentin bezog sich nicht nur in diesem Zusammenhang auf das Werk „Die Erlebnisgesellschaft“ von Gerhard Schulze, das 1992 erschienen ist. Schulze beschrieb die verschiedenen sozialen Milieus als Rahmen, innerhalb deren sich Menschen beim Entwurf ihrer Individualität orientieren. In diesem Zusammenhang spricht er auch von einer „Ästhetisierung der Lebenswelten“. Das bedeutet, dass sich heutige Menschen weniger an festen Wertmaßstäben ausrichten („Was ist an sich wahr, richtig, gut?“), sondern eher fragen: „Was passt zu mir?“ Kriterium für Lebensentwürfe ist der persönliche Geschmack, nicht eine grundsätzliche Werteorientierung. Das gilt es zumindest wahrzunehmen.

Katharina Eberlein-Braun erinnerte daran, dass sich Teile der Theologie seit den 80er Jahren den subjektiven Lebenswelten sehr bewusst zugewendet haben. Aus gutem Grund: Für viele heutige Menschen werden Inhalte erst dann interessant, wenn Form und Stil für sie passen. Diese Wahrnehmung ist meines Erachtens eine enorme Herausforderung für eine Kirche, die in ihrem Selbstverständnis ja nicht an grundsätzlichen, nämlich biblisch begründeten Werteorientierungen vorbei kommt. Die eigentliche Herausforderung besteht aber gerade in dem Dilemma, dass die Beschreibung und Beurteilung einer grundsätzlichen Werteorientierung sich niemals unabhängig vom Geist oder den Strömungen der jeweiligen Zeit vollzieht. Wir sind immer Kinder unserer Zeit. Es wäre nicht redlich, wenn Theologinnen und Theologen meinten, sie stünden sozusagen über und jenseits der Strömungen ihrer Zeit. Wie dann eine kritische Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist aussehen kann, ist eine offene Frage. Geistlicher Hochmut ist keine Option.

Auf jeden Fall, so die Modetheoretikerin Gertrud Lehnert, ist Mode nicht oberflächlich. Modisches Handeln ist vielmehr ein Vollzug, in dem heutige Menschen ihre Individualität konstituieren. Und das ist eben ein sehr komplexes Spiel. In diesem Zusammenhang fand ich die von der Referentin vermittelte Einsicht interessant, dass die Entstehung von Modeströmungen viele Unabwägbarkeiten in sich trägt. Auch die einflussreichsten Modeschöpfer können Mode nicht einfach willkürlich „machen“.

Ja, wir dürfen uns und andere als geliebte Kinder Gottes ansehen, unabhängig vom Äußeren. Andererseits können wir gar nicht anderes: wir entwerfen unsere Persönlichkeit auch im Rahmen von Modeströmungen. Niemand kommt daran vorbei, sich zu präsentieren und damit zu zeigen, was er in bestimmten Situationen von seiner Persönlichkeit zum Ausdruck bringen möchte. In diesem Rahmen ist es stets so, dass wir uns und andere einschätzen. Können diese Wirklichkeiten konstruktiv in eine Beziehung zueinander gesetzt werden?

Um unfruchtbare Konfrontationen zu vermeiden, regte Katharina Eberlein-Braun dazu an, theologisch das Vorläufige, das Fragmentarische der menschlichen Existenz in den Blick zu nehmen, an der man selbst Anteil hat. Vielleicht, so frage ich im Anschluss an dieses Stichwort „fragmentarisch“, wäre das eine Aufgabe für eine heutige Kreuzestheologie? Katharina Eberlein-Braun brachte den Bildband „I.N.R.I.“ von Serge Bramly und

Bettina Rheims ein, in dem die Passionsgeschichte von heutigen Models in Szene gesetzt wird. Die kühle Ästhetik dieser Bilder fand ich gerade in Verbindung mit der Passions-geschichte irritierend, denn sie zeigen den typisch abwesenden Modelblick und die ebenso typischen „seelenlosen Mannequinposen“ (so Barbara Vinken). Womöglich versteckt sich aber hinter dieser kalten Perfektion gerade das Bruchstückhafte menschlicher Existenz. Und, in der Tat: auch scheinbar seelenlose Models haben eine Seele, tragen Leid, sind Kinder Gottes.

Frieder Jehnes, Bayreuth