Zur Diskussion über kirchliches Engagement in der Seenotrettung

Stellungnahme des Rates der Schwestern und Brüder für das Korrespondenzblatt 12/2020

Im Juli wurde mein Artikel zur Dilemma behafteten Thematik „Seenotrettung“ in dieser Zeitschrift veröffentlicht – unter dem redaktionell gewählten Titel „Du sollst nicht ertrinken lassen“. Dass das laute Nachdenken über die von mir geäußerten Argumente, Einschätzungen und Schlussfolgerungen eine derart massive öffentliche Resonanz weit über die Seiten des Korrespondenzblattes hinaus nach sich ziehen würde, hätte ich mir – ganz ehrlich – nicht gewünscht.

Seit Pfingsten arbeite ich im Rat der Schwestern und Brüder der Bayerischen Pfarrbruderschaft – Theologische Weggemeinschaft von Frauen und Männern mit. 

Mit einigen Ratsgeschwistern zusammen habe ich diese Stellungnahme ausgearbeitet.

An erster Stelle liegt uns an folgender Feststellung: Dr. Matthias Dreher hat sich unserer Meinung nach sehr zugespitzt und polemisch geäußert. Dass er aber aufgrund seiner Leserzuschrift mit dem Titel „Ein Christ kann ertrinken lassen“ einem massiven Shitstorm und auch Bedrohungen ausgesetzt war, entspricht einer Unversöhnlichkeit in der heutigen Debattenkultur, die wir als Christinnen und Christen unseres Erachtens sehr kritisch sehen müssen. Dass der Kollege Dr. Matthias Dreher durch Kirchenvorstandsbeschluss inzwischen seine Stelle in Nürnberg räumen musste, haben wir uns nicht gewünscht; es macht uns vielmehr betroffen.  

Zur Debattenkultur und auch zur Sache selbst folgende Gedanken:

1. Theologisches Ringen und solidarische Zeitgenossenschaft brauchen Dialog, brauchen Gespräch, brauchen Auseinandersetzung, brauchen auch die Kontroverse, um immer wieder neu in all unserer menschlichen Fehlbarkeit und Unzulänglichkeit Gottes Güte und Gnade, Gottes Zuspruch und Anspruch nachzuspüren und dies in unserem Leben und durch unser Leben zur Geltung kommen zu lassen. Wenn wir als Christ*innen einander und vor allem der Welt, in die Gott uns gestellt hat, „das Zeugnis gönnen“ (Zitat von Pfr. Karl Steinbauer, einem der Gründungsmitglieder der Bayerischen Pfarrbruderschaft), dann ist das unvereinbar mit der Logik des Shitstorms, der publikumswirksamen Frontstellungen und auch mit dem Absprechen eines legitimen Glaubens.  

2. Die Bayerische Pfarrbruderschaft – Theologische Weggemeinschaft von Frauen und Männern hat der Organisation „Sea-Watch“ an Pfingsten 2020 in Würdigung ihrer vielfachen Lebensrettungsversuche und ihres von Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe getragenen Einsatzes als symbolische Anerkennung das „Karl-Steinbauer-Zeichen“ überreicht, und zwar wie immer stellvertretend für alle, die sich in anderen Organisationen und Kontexten gleichermaßen engagieren. Wir sagen ganz ungeschützt:  Wir sind von Herzen froh und dankbar, dass es diese vor allem jungen Menschen gibt, die große Belastungen und Risiken auf sich nehmen, um Menschenleben zu retten. Wie traurig würde es in unserer Welt aussehen, wenn es diesen Idealismus nicht gäbe! Wir sind dankbar dafür,  dass in unserer gefallenen, erlösungsbedürftigen Welt in Gottes Namen (explizit oder  auch implizit) Menschen immer wieder Gottes lebensbejahenden, lebensrettenden und lebensverändernden Willen erkennen und versuchen, dies in konkretes Handeln zu übersetzen und dafür auch große Risiken auf sich nehmen. Wir stehen daher zu der Überzeugung, dass individuelles, aber auch kollektives christliches Handeln (hier: qua Kirche wie z.B. EKD) geboten sein kann, wenn staatlich organisierte Realpolitik nicht nur im Extremfall, sondern sogar immer wieder systematisch billigend in Kauf nimmt, dass Flüchtlinge und Migrant*innen z.B. in Folterkammern geraten oder sich in Situationen der Seenot begeben. Daher stehen wir zu einem Ja zur (so lange als nötig auch kirchlich unterstützten!) Seenotrettung als Ausdruck der stets von neuem auszulotenden Versuche, die göttliche Weisung der Nächstenliebe konkret zu leben.  

3. In unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen und damit unweigerlich auch kirchlichen Situation sind mannigfaltig klare Anzeichen für die an Zahl und Einfluss wachsende Realität von einseitigem, zum Teil populistischem, nicht selten in medialen und auch logischen Blasen gebundenem Denken und Handeln zu erkennen. Davor ist augenscheinlich keine gesellschaftliche oder auch kirchliche Gruppierung gefeit.

Wir halten es für gut protestantisch, dass Kirchesein, Christsein und Theologietreiben eine öffentliche Dimension haben und stehen dazu. Trotzdem finden wir es in der aktuellen Auseinandersetzung um das Recht der Seenotrettung erschreckend, dass ein offenbar nötiger theologischer Diskurs in seiner Außen- und Breitenwirkung nicht einfach die Pluralität der theologischen und ethischen Ansichten darstellte, sondern zu einer schwarz-weißen Frontbildung geführt hat, die vom zumeist außerkirchlichen Journalismus z.T. auch sinnentstellend und dekontextualisiert wiedergegeben wurde. Wir bedauern, dass das auf Dialog und Pluralismus angelegte Presseorgan des Pfarrerinnen- und Pfarrervereins zum Ausgangspunkt für eine derart polarisierte öffentliche Polemik wurde. Bei aller notwendigen, klaren Auseinandersetzung wünschen wir uns zumindest in der Kirche einen geschwisterlichen, respektvollen und fairen Umgang miteinander. Die Reaktionen auf den Leserbrief von Dr. Matthias Dreher im letzten Korrespondenzblatt (11/2020) haben in diesem Sinne viele Aspekte verdeutlicht, die es verdienen, weiter offen diskutiert zu werden. Wir wünschen uns hierbei in besonderem Maße eine tiefergehende Diskussion zu den Implikationen des theologischen Denkmusters Martin Luthers, das oft als Zwei-Reiche- bzw. Zwei-Regimenten-Lehre zusammengefasst wird, welche in Teilen der lutherischen Tradition bis heute eher als „Zwei-Bereiche-Lehre“ gefasst und angewandt wird, was andere theologische und ethische Schlussfolgerungen zeitigt als z.B. die inzwischen auch von der ELKB durch Synodalbeschluss als Bekenntnistext anerkannte „Theologische Erklärung von Barmen“ 1934 (dort v.a. These V).    

Unsere eigene Position ist es, dass das christliche Zeugnis sowohl bei der aktiven Mitgestaltung von Realpolitik als auch bei der nicht einfach nur gutmenschlichen, sondern die Gottesherrschaft immer wieder hier und da stückweise antizipierenden Handlungen geboten und notwendig ist. Aber Polarisierungen und Verhärtungen blockieren eher, als dass sie dem förderlich sind. 

Ulrich Eckert zusammen mit Dr. Julia Illner, Frieder Jehnes und Mark Meinhard im Namen des Rates der „Bayerischen Pfarrbruderschaft – Theologische Weggemeinschaft von Frauen und Männern“

Bezug: pfarrverein-bayern.de/korrespondenzblatt; Ausgabe 7/20, S. 133-138 (Artikel von Ulrich Eckert; Ausgabe 17/2020, S. 199 (Zuschrift von Dr. Matthias Dreher); Reaktionen in der Ausgabe 11/2020, S. 224-228; vorher: vielfältige  öffentliche Reaktionen, ausgehend von einem Artikel in den Nürnberger Nachrichten von Michael Kasperowitsch: „Von allen guten Geistern verlassen“ Mitte Oktober 2020 (https://drive.google.com/file/d/1cEC6IZtX5cNyMflZk66GcdIDqJgQjkZg/view?usp=sharing)